AW: Was ist die korrekte Anrede in Portugal?
Hallo,
bezüglich der Anreden ist es schwierig etwas zu erklären wofür es keine Parallelen gibt. Am einfachsten ist es aber vielleicht, wenn sich die Deutschen etwa hundert Jahre zurück versetzen und am besten noch nach Österreich.
Da gab es nämlich auch noch sehr viel mehr Möglichkeiten Menschen anzureden als heute. In Portugal hat sich das schlichtweg noch länger gehalten, was ich persönlich sehr angenehm finde, aber das ist natürlich Geschmackssache.
Grundsätzlich, wenn wir nicht von Titeln oder Vor- oder Nachname-Kombinationen sprechen, sondern nur von Personalpronomen, dann sind noch vier davon in Gebrauch und somit gibt es in Portugal vier Basisebenen auf denen man sich Menschen nähern kann. Innerhalb dieser Ebenen kann man innerhalb gewisser Grenzen noch differenzieren indem man mit oder ohne Titel, per Vorname oder per Nachname anspricht.
Die vertraute, intime Form der Anrede ist das TU, das für eine Kommunikation von Gleich zu Gleich gebraucht wird, wo jedoch eine Freundschaft herrscht. Oder aber von Erwachsenem zum Kind, oder vom weissen Rassisten zum Schwarzafrikaner. Das TU wird, so informell das auch geschehen mag, immer angeboten; es sei denn es ist absolut offensichtlich. Oder es ist das "verlogene" TU, wie es das auch in Deutschland innerhalb eines dynamischen Teams gibt, das sich modern gibt; oder unter Studenten, was ähnlich dem kommunistischen Brauch ist. (Am Frühzeitbeispiel: "Hast du wieder in der Nase gebohrt?")
Die Ebene darüber ist das VOCÊ, das ebenfalls eine Kommunikation von Gleich zu gleich ist (es sei denn ich bin ein Kind oder "unterwerfe" mich sozial), aber auf respektvollerem Niveau als beim TU. Wen ich recht gut kenne, mit dem ich aber nicht befreundet bin, zu dem sage ich VOCÊ. Diese Form signalisiert Vertrautheit, aber auch noch Respekt, und war früher zum Beispiel sehr viel formeller als heute. (Beispiel aus der Mottenkiste: "Hat er wieder in der Nase gebohrt, der junge Mann?") Es wird im Portugiesischen, wie auch früher im Deutschen die dritte Person benutzt, da es zu vertraulich war die Person direkt anzusprechen.
In Brasilien haben sich TU und VOCÊ vermischt, bzw. das TU hat sich im VOCÊ ziemlich aufgelöst. Der Unterschied zwischen TU/VOCÊ und SENHORA ist jedoch in Brasilien ganz genauso wie in Portugal.
Dann gibt es, wieder eins höher, das O/A SENHOR/A, was ebenso die dritte Person benutzt und somit explizit erwähnt werden muss, wenn man klarmachen möchte nicht VOCÊ gesagt zu haben. Andersrum ist es aber auch sehr praktisch, denn meist ist die Unsicherheit die, ob man Senhor/a oder Você sagen soll, und dann sagt man keines von beiden und benutzt die dritte Person. Eine ältere, feinere Dame, die ich (45) mit VOCÊ anspreche wird das nicht sehr angebracht finden; wenn ich aber diese Dame schon länger kenne und wir auch schon viel zusammen gelacht haben, dann kann ich das SENHORA auch mal weglassen und vielleicht auch VOCÊ sagen, aber das hängt von der Persönlichkeit ab. SENHORA suggeriert immer Respekt, und meistens auch Alter. Wenn ich zu jemandem meines Alters SENHORA sage wird diejenige sich gealtert fühlen. Eine Freundin von mir ist fast 80 und als wir uns vor vielen Jahren kennenlernten habe ich SENHORA zu ihr gesagt und sie zu mir VOCÊ; heute sind wir befreundet und ich sage zu ihr VOCÊ und sie zu mir TU. Niemals würde ich TU zu ihr sagen, weil Alter und Respekt nicht zu trennen sind und es immer einen Niveau-Unterschied geben muss zwischen jemandem in den 40ern und jemandem, der deutlich älter ist. (KuK-Beispiel: "Hat der Herr wieder in der Nase gebohrt?")
Als höchste, heute noch gebräuchliche Form (auch in Brasilien) ist das VÓS zu nennen, das es zwar als Verbform der zweiten Person Plural nicht mehr gibt, was aber noch als Possessivpronomen benutzt wird. Die Verbform ist dritte Person Singular, die Anrede SENHOR, aber das Possessivpronomen ist VOSSA/O. In der gehobenen, formellen gesprochenen Sprache ist das angebracht, im gehobenen, formellen Briefwechsel unumgänglich wenn man sich angemessen ausdrücken will. Diese Form wird benutzt, wenn ich dokumentieren will, dass ich ausdrücklich nach oben schaue oder mich selbst verbeuge; also normalerweise vor Menschen, die Positionen innehaben mit Titeln, die Gewicht haben. (Entsprechend, im Goldenen Zeitalter: "Habt Ihr wieder in Eurer Nase gebohrt, Herr Oberpostdirektor? - das IHR ist im Portugiesischen verschwunden, aber das EURER ist geblieben)
Zusammenfassend lässt sich vielleicht das TU als informell deuten, das VOCÊ als respektvoll, das O SENHOR als sehr respektvoll, und das VÓS als formell.
In Bezug auf die Anreden kann mehr oder weniger gelten, dass bei TU der Vorname, bei VOCÊ der Vorname mit Dona davor, bei SENHORA der Nachname und bei VÓS der Nachname mit Titel oder Position gebraucht wird. Das ist aber, wie gesagt, sehr flexibel und ich kann damit recht frei umgehen; was immer ich aber kombiniere, damit gebe ich eine Tendenz innerhalb der gewählten Ebene bekannt. Wenn ich also z.B. VOCÊ sage, dann aber immer den Titel erwähne, dann ist das eine Tendenz in Richtung SENHORA; wenn ich sage "Dona Maria, a Senhora sabe....", dann schwäche ich das SENHORA damit ab, etc. etc. hier sind Portugiesen keine Grenzen gesetzt.
Nachdem jetzt alle, die unsicher waren vollends verwirrt sind, der Einfachheit halber folgende Faustregel:
Ist die Person deutlich älter als ich?
-ja- > O/A SENHOR/A
-nein- > VOCÊ
und erst danach kommt die Frage, wie vertraut ich bin und ob ich statt VOCÊ auch TU oder statt O/A SENHOR/A auch VOCÊ sagen kann.
Viele Grüße,
Dirk