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Artikel Am Rande eines Buches

Dom Estêvão

Entusiasta
Teilnehmer
Stammgast

Ich stelle das absichtlich in die Rubrik „Urlaub in Portugal“. Vielleicht inspiriert es jemanden, einmal etwas anders zu reisen: langsamer, nachdenklicher, beobachtender. Und wer schon seine 2.000 Kilometer, 7 Städte und 5 Strände in 14 Tagen hinter sich hat, kann sich nochmals, in Gedanken und in der Fantasie, auf eine entspannendere Portugal-Reise begeben.


Mir macht es gerade Freude, ein etwas anspruchsvolleres Buch zu lesen. Ich bin sonst eher ein Fan von einfacher Lektüre zum Abhängen und Einschlafen.

Ich rede vom Buch „O Ano da Morte de Ricardo Reis“ von José Saramago. Das Buch lese ich allerdings auf Deutsch, und selbst das verlangt zumindest anfangs und bei mir einige Konzentration. Saramago mag lange Sätze, Komma an Komma, mit wechselnden Perspektiven. Man weiß oft nicht, wer was denkt oder sagt und wer antwortet. Das geht aber vorbei und man kann es nach etwas Gewöhnung (mein Kindle sagte 35 Prozent) recht flüssig lesen.

Das Buch ist weder spektakulär noch spannend. Bei mir spricht es jedoch direkt meine Fantasie an und macht mich neugierig. So neugierig, dass ich ständig die Orte, Ereignisse und andere Erwähnungen im Netz recherchiere (Google, KIs, Blogs usw.).

Das Setting ist eigentlich ziemlich wirr. Es handelt von der portugiesischen Gesellschaft im Lissabon des Jahres 1936. Fernando Pessoa starb am 30. November 1935. Die Handlung beginnt im Dezember 1935, ein paar Wochen nach seinem Tod. Saramago bedient sich Pessoas Heteronym „Ricardo Reis“, einem Arzt, der aus Brasilien in seine Heimat Portugal zurückkehrt. Reis und Pessoa treffen sich nach dessen Tod und führen verschiedene Gespräche.

Ich bin nun in der Hälfte angelangt. Bisher spielt die Handlung vor der Kulisse des winterlichen Lissabons. Es war 1935/1936 tatsächlich ein außergewöhnlich regnerischer Winter mit starken Überflutungen, vorwiegend im Ribatejo. Das passt so gar nicht ins Portugal-Klischee. Auch die mit feiner und subtiler Ironie durchzogenen Reflexionen über die portugiesische Gesellschaft passen nicht in die üblichen Tourismus-Klischees. Viele (Charakter-)Eigenschaften kann man heute noch beobachten.

Im Buch lebt Ricardo Reis nach seiner Ankunft in Lissabon einige Monate im Hotel Bragança in der Rua do Alecrim im Zimmer 201. Im echten Leben hat sich Fernando Pessoa angeblich öfter im Bragança und in genau diesem Zimmer aufgehalten. Solche Geschichten sind jedoch manchmal nur Marketing-Legenden. Das Hotel Bragança im Gebäude an der Rua do Alecrim wurde umgebaut und im September 2010 als LX Boutique Hotel eröffnet. Das scheint mir eine interessante Adresse zu sein. Das Hotel widmet seine Zimmer und Etagen verschiedenen Lissabon-Themen wie 7-Colinas-Etage, Fado-Etage und auch einer Fernando-Pessoa-Etage. Sicher ein wenig Disneyland, aber ohne das geht es heute nicht mehr. Wer beim Übernachten nicht nur auf den Geldbeutel und die Sterne bei Booking achtet, kann es einfach einmal ausprobieren und berichten. Und das alte Bragança kann man sich auf historischen Fotos anschauen und mit Saramagos Buch das Flair nachempfinden.



So, vielleicht schreibe ich mal weiter. Vielleicht interessiert es jemanden, und wenn nicht, auch egal. Lesen, Recherchieren und dann noch etwas darüber schreiben ist jedenfalls für mich eine gesunde Übung und kurzweilige Freizeitbeschäftigung.
 
Ich habe mich auch an einige Saramagos "rangewagt". Ja, keine leichte Kost, aber lohnenswert, wenn man anspruchsvolle Literatur mag.
Es gibt noch eine Warteliste, gerade beanspruchen mich unser "Urlaube" ziemlich, da brauch ich eher Entspannendes.
Aber es wird die Zeit kommen, wenn wir bei azorianischen Winterstürmen im Ohrensessel vor dem salamandra sitzen :-D.
 
Wer beim Übernachten nicht nur auf den Geldbeutel...achtet, kann es einfach einmal ausprobieren und berichten.
war damals wahrscheinlich etwas günstiger zu haben :hurra.gif::
Im Buch lebt Ricardo Reis nach seiner Ankunft in Lissabon einige Monate im Hotel Bragança in der Rua do Alecrim im Zimmer 201.
Ist tatsächlich nicht unsre Preisklasse und auch nicht unsre Ecke. Sieht aber echt schick aus und die Idee ist schön.
 
Ja, @Farbenzeit, auch wir müssen das Preisschild etwas im Auge behalten und beobachten. Gerade mit Familie kann man nicht ganz beliebig das Geld ausgeben. Ich denke an die vielen, die ein paar Hunnies mehr oder weniger gar nicht bemerken und auch nie bemerken werden. Dennoch sind gerade die, unter den größten Schnäppchenjägern und freuen sich kindlich, wenn sie im Urlaub billig wohnen, essen und vorher bei Temu die Badehosen einkaufen. Ich kenne einige. Vielleicht ist es der Herkunft vieler meiner Freunde und Bekannten geschuldet, dem berühmten Schwabenland, den Erfindern des Kupferdrahts, die den Pfennig so lange umgedreht haben, bis er zum Draht wurde. :-)
 
Zurück zum Buch bzw. dem Drumherum...

Heute ging mir das Thema mit den Zeitungen durch den Kopf. Bisher werden zwei Zeitungen erwähnt. Die heute noch existierende Tageszeitung „Diário de Notícias“ und die 1977 eingestellte Zeitung „O Século“.

Beides waren Qualitätszeitungen und gleichzeitig die auflagenstärksten Zeitungen der Zeit. Mit Qualitätszeitungen meine ich Zeitungen, die sich an Leute mit einer gewissen Grundbildung richten. O Século war vielleicht etwas volksnäher, aber keine gehörte zu den billigen Boulevard-Zeitungen, die außer Tratsch, Sex, Crime und Sport wenig zu bieten haben. Das hatte meiner Meinung nach einen ganz einfachen Grund. In den 30er Jahren waren ca. 60 Prozent der Bevölkerung Analphabeten. Zeitungsleser kamen folglich aus der städtischen, gebildeten Mittel- und Oberschicht und aus gebildeten Arbeiterkreisen. Für plumpe Boulevard-Zeitungen gab es einfach keine Leser.

Es gibt eine schöne Szene im Buch, die ich mir lebhaft vorstelle. Zwei Alte sitzen ständig vor Ricardos neuer Wohnung auf einer Bank, betrachten den „Fluss“ (Tejo), tratschen, streiten sich und lesen die Samstagsausgabe des Século. Die beiden wechseln sich ab. An einem Samstag kauft der Dicke und am anderen Samstag der Magere die Zeitung. Aber immer nur der Dicke liest dem Mageren vor. Der ist Analphabet.

Kleiner Einschub: Vermutlich war das seine besagte Wohnung: . Von dort aus konnte er die beiden Alten, den Adamastor und den „Fluss“, sehen. Bisschen im Streetview drehen.

Zurück zu den Zeitungen und zur Frage, wie sie sich im Estado Novo behaupteten.

Am 11. April 1933 wurde per Dekret die Vorzensur (Censura Prévia) eingeführt. Alle Zeitungen, Zeitschriften, Theaterstücke und Bücher mussten zuerst der Zensurbehörde vorgelegt werden. Mit einem blauen Stift (o Lápis Azul) wurde zensiert und gestrichen. Der Diário und der Século wurden schnell auf Linie gebracht. Die Diktatur nahm massiven Einfluss auf die auflagenstärksten Zeitungen, bis hinein ins Direktorium. So ging es nahezu allen Zeitungen.

Beispiele einer Zensur mit dem Lápis Azul:


Ein kleines gallisches Dorf war und blieb der „Diário de Lisboa“, ein prägendes „intellektuelles“ und „liberales“Abendblatt. Der Trick war der Fokus auf kulturelle Themen und das Schreiben-zwischen-den-Zeilen (nas entrelinhas). Vorsichtig ausbalanciert konnte das Abendblatt so die strenge Zensur in zumindest bescheidenem Umfang austricksen. Aber zu viel konnte man nicht erwarten. Vielleicht eine, nur für Gleichgesinnte erkennbare, stark, übertriebene Darstellung einer offiziellen Meinung. Manches ging so durch die Zensur. Offene Kritik war aber auch bei der „Diário de Lisboa“ unmöglich.

Übrigens. Beide, also Fernando Pessoa und José Saramago, haben für den Diário de Lisboa geschrieben. Pessoa in den Anfangsjahren nach 1921 und Saramago erst 1972 und 1973 als politischer Kommentator. Saramago war Mitglied der verbotenen PCP (Partido Comunista Português) und stand unter Beobachtung durch die PIDE, konnte aber, im Gegensatz zu vielen seiner Gesinnungsgenossen, einer Inhaftierung und der Folter entgehen.

Wer sich gerne Zeitdokumente anschaut, kann sich einfach in verschiedenen Portalen kostenlos registrieren und stöbern. Beispielsweise hier
(das Laden dauert etwas) oder hier
 
Das Buch habe ich schon seit einigen Tagen ausgelesen. Irgendwann habe ich es förmlich verschlungen. Warum? Ist es so toll? Nöö. Eigentlich kann ich gar nicht so viel damit anfangen. Und spannend ist es auch nicht. Ich bin vermutlich zu blöd oder unsensibel für anspruchsvolle Literatur. Dennoch hat es mir gefallen.

Irgendwann habe ich auch aufgegeben, alles zu recherchieren. Im letzten Drittel überschlagen sich die historischen Ereignisse. Und ich habe bemerkt, dass mir der geschichtliche Hintergrund fehlt.

Ob ich das Buch empfehlen würde? Das Jahr 1936 war aus spanischer und portugiesischer Sicht ein besonders ereignisreiches Jahr. In Spanien gab es den Militärputsch mit Franco an der Spitze. Später wird er Generalísimo. Der anschließende Bürgerkrieg dauerte knapp drei Jahre. Man erfährt viel über diese Zeit. Wer Portugal auch aus historischer Sicht besser verstehen möchte, sollte das Buch lesen. Wer eher ereignisreiche Geschichten während der Diktatur sucht, sollte zu einem anderen Buch greifen.

Interessant und sehr angenehm finde ich, wie Saramago diese Zeit aus portugiesischer Sicht beschreibt. Kritik äußert er subtil, dezent, leise, ja flüsternd. Er spricht wenig aus, sagt aber viel. Er kaut niemanden Wahrheiten vor, sondern überlässt dem Leser das Nachdenken. Das ist ein erholsamer Kontrast zu der rauen Diskussionskultur, die heute vorherrscht. Viele (auch wir hier) nehmen schnell mal die Keule hervor und versuchen, dem anderen, die „richtige und einzige“ Sichtweise notfalls in den Kopf zu knüppeln. Dass dies nicht funktioniert, zeigt die Entwicklung der letzten Jahre. Wer geschlagen wird, schlägt zurück. Keulen spalten Schädel, aber auch Gesellschaften.

Tja, solche Gedanken und viele andere kamen mir beim Lesen. Schon deshalb hat sich für mich die Lektüre gelohnt.
 
Die „Batalha de Badajoz“ war eine taktisch und strategisch wichtige Schlacht, knapp einen Monat nach dem nur halb gelungenen Staatsstreich durch die spanischen Nationalisten.





Aus dem Buch:

Badajoz hat sich ergeben. Angespornt durch das flammende Telegramm der ehemaligen portugiesischen Legionäre, hat der Tércio wahre Wunder vollbracht, sowohl im Distanzkampf wie im Kampf Mann gegen Mann, wobei insbesondere die Tapferkeit der portugiesischen Legionäre der jungen Generation gerühmt wurde, sie wollten sich ihren Vorgesetzten gegenüber würdig erweisen, wozu man noch den günstigen Effekt hinzurechnen muss, dass die Nähe der heimatlichen Gefilde stets den Mut beeinflusst.

Quelle: Saramago, José. Das Todesjahr des Ricardo Reis: Roman (p. 465). Kindle Edition.

Tatsächlich hat eine beträchtliche Anzahl Portugiesen im spanischen Tércio (spanische Fremdenlegion) an der Seite der Nationalisten gekämpft.

Etwas später kommt Saramago auf das Massaker von Badajoz so zu sprechen:

General Mola verkündete, die Zeit der Abrechnung ist gekommen, und die Stierkampfarena öffnete die Tore, um die gefangenen Milicianos aufzunehmen, dann schlossen sie sich, das ist die Fiesta, die Maschinengewehre tönen olé, olé, olé, niemals zuvor wurde so laut in der Arena von Badajoz geschrien, die Minotauren im Drillichzeug fallen übereinander, ihr Blut vermischt sich, die Adern bluten aus, als niemand mehr aufrecht steht, erledigen die Matadore diejenigen, die nur verletzt worden waren, durch Pistolenschüsse, und wenn jemand dieser Barmherzigkeit entging, dann nur, um lebendig begraben zu werden.

Quelle: Saramago, José. Das Todesjahr des Ricardo Reis: Roman (p. 465). Kindle Edition.

Und etwas weiter:

Den Rest erfuhr Ricardo Reis von Lídia, die es wiederum von ihrem Bruder erfahren hatte, der es von wer weiß wem erfahren hatte, vielleicht eine Nachricht, die aus der Zukunft gekommen war, wenn man endlich alle Dinge erfahren kann. Lídia weint nicht mehr, sie sagt, zweitausend haben sie getötet, ihre Augen sind trocken, doch ihre Lippen beben, und die Wangen glühen. Ricardo Reis will sie trösten, ihren Arm nehmen, das war seine erste Geste, man erinnere sich, doch sie entzieht sich ihm, nicht aus Groll, sondern nur, weil sie es heute nicht ertragen könnte.

Quelle: Saramago, José. Das Todesjahr des Ricardo Reis: Roman (p. 466). Kindle Edition.



Diese Abschnitte geben auch einen Eindruck von Saramagos Art zu schreiben, und die gehören noch zu den „übersichtlichen“ Abschnitten. Übrigens wird es auch nirgends dramatischer oder brutaler.
 
Danke für deine Gedanken zum Buch.

Mir ging es vor vielen Jahren ähnlich mit dem "Nachtzug nach Lissabon" welches den Blick auf die mir völlig unbekannte Geschichte Portugals eröffnete.
Erst Jahre später bin ich dann zum ersten Mal in Portugal gewesen und besonders in Lissbon spürte ich wie da Geschichte regelrecht "ausgeatmet" wird...
Klar, der marode Charme der Architektur drängt sich ja förmlich auf...
Dann der Tejo...."das Tor zur Welt" der alten Seefahrernation
usw.

Zeitgleich wächst mit dem eigenen Älterwerden auch das generelle Interesse an Geschichte.
Und manchmal "erwächst" auch die traurige Erkenntnis: Das Einzige was wir aus der Geschichte lernen, ist, dass wir nichts lernen.

.....überlässt dem Leser das Nachdenken. Das ist ein erholsamer Kontrast zu der rauen Diskussionskultur, die heute vorherrscht. Viele (auch wir hier) nehmen schnell mal die Keule hervor und versuchen, dem anderen, die „richtige und einzige“ Sichtweise notfalls in den Kopf zu knüppeln. Dass dies nicht funktioniert, zeigt die Entwicklung der letzten Jahre. Wer geschlagen wird, schlägt zurück. Keulen spalten Schädel, aber auch Gesellschaften.

Ja, vor 20 Jahren war die Vorstellung, dass mitten in Europa mal Bürgerkriege stattfinden könnten, völlig absurd.
Heute leider nicht mehr....und die Tendenzen dahin gleichen bilderbuchhaft der Beispiele aus der Geschichte.

Leider wissen auch gebildete Menschen heute oft nichts mit "These, Antithese und Synthese" praktisch etwas anzufangen.
Oder halten Orwells "1984" nicht für eine Warnung, somdern für eine Betriebsanleitung.

Gruß Matthias
 
Da hast du recht...das ist bei mir etwas in Vergessenheit geraten...
Die westliche Lesart damals war, dass da unversöhnliche Bevölkerungsgruppen unter "sozialistischem Druck" zusammenleben mussten, was sich dann als die "Freiheit" da war, entladen hat.
Damit war das so eine Art "Jugoslawienproblem", was z.B. auf Deutschland oder Frankreich überhaupt nicht zutreffen könnte.

So zumindest meine Wahrnehmung meiner im Alter schwächelnden Erinnerung ;-)

Gruß Matthias
 
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