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Der Tag hat mit angenehmen Eindrücken geendet. Denn - weil ich unbedingt noch den Tejo näher sehen wollte, entscheiden wir uns für einen Abendspaziergang. In Richtung der roten Brücke laufen wir. Und ich verstehe bald, warum unsere Vermieterin nicht begreifen konnte, warum ich so gern den Hafen sehen wollte. Da nächtens ja alles so rasch gehen musste, hatte sie nur abgewunken. Häfen gäbe es, aber mehr industriemäßig. Und der andere, für die Kreuzfahrtschiffe, läge außerhalb der Reichweite, wenn man zu Fuß gehen wolle. Versteht sie ohnehin nicht, denn die
Linha de Cascais fährt fast um die Ecke ab und am Bahnhof
Cais do Sodré stiege man um in die... Ich schüttelte mit dem Kopf und sie gab auf. Wahrscheinlich glaubte sie mich falsch verstanden zu haben. Und ich dachte umgekehrt ähnlich.
Nun wollten wir das schon mal antesten und starteten entlang der Gleise, es konnte also nichts schiefgehen. Nun ja, fast nichts. Eine netter Uniformierter war in voller Aktion.
Ob Autofahrer ihn wohl auch in Deutschland so ehrfürchtig respektieren würden, obwohl er bescheiden (und fluchtbereit) dicht am Rinnstein stand? Jedenfalls war die Hose an den Knöcheln schon festgezurrt (vielleicht war sie aber auch schlicht zu lang, für kurze portugiesische Männerbeine).
Je dunkler es wurde, desto begeisterter wurde
ich. Das Licht änderte sich, alle Konturen verschwammen stetig mehr, fügten sich zu einem warmen Bild stimmiger Farben. Wie eine Symphonie des Wandels und der Veränderung. Die Straßen ließen den Lärm des Tages los und bereiteten mir einen leisen Weg unter den Wanderstiefeln, als wollten sie plötzlich alle Geheimnisse spürbar werden lassen. Es war mittlerweile nicht mehr möglich zu fotografieren (das leistet meine einfache, alte Kamera nicht), aber zu zeichnen hätte ich vermocht. Sepia, sanft abgetönt. Ein wenig ärgerte ich mich, meine Stifte daheim gelassen zu haben. Aber mit Flugzeug - Minimalgepäck kann man eben nicht alles mitnehmen. Ein letztes Bild gelang gerade so eben noch:
Relativ weit waren wir gekommen und ich staunte über die mächtige Brücke. Kein Vergleich mit Porto... Und auch nicht zu betreten. Da oben würde ich wohl nie sein, dachte ich. Aber wie war das mit Gott? Er lenkte. Und es wurde
das Abenteuer in Lissabon überhaupt. Jedenfalls für mich. Noch heute denke ich daran... All' die Gestalten, aufblitzenden Lichter, der Wind, der die Brücke ihr unnachahmliches Lied singen lässte, als griffe ein Himmelswesen in die Saiten einer riesigen Harfe. Noch immer höre ich die Melodie, wenn ich mich konzentriere. Und sie erzählt vom Meer. Einer Zauberstadt, die täglich ihr Gesicht wandelt. Und Nächten, die nie zu enden scheinen, unter den wehmütigen Klängen zahlloser Fados...
Wir schlenderten im milden Licht der Laternen zurück. Wortlos. Jedes Gebäude, jede Fassade schien mir zuzuflüstern. "Hörst du meine Stimme? Suchst du nach meinen Geheimnissen? Willst du, dass ich sie dir zeige? Ich kenne die Orte, zu denen du gehen musst. Lass'
mich entscheiden, reich' mir deine Hand, ich werde dich in Zimmer führen, die du längst geträumt hast und in Räume, die in deinen Gedanken auf immer dir gehören, wenn du es nur willst. Trag' den Zaubermantel, der dich nur
das schauen lässt, was du mit deinem Herzen sehen möchtest"...
Sicher habe ich genickt. Die Hand der Zauberin ergriffen. Die alles wahr machen wird, schon bald...
Ins Haus zurück kehre ich nun anders. Es ist mein "little house". In dem ich mich wohl und beschützt fühle. Es hat alles, was ich brauche. Und was es nicht hat, das brauche ich auch nicht. Wenn ich es doch mitnehmen könnte! In meine Herzklopfenstadt. Dorthin würde es gut passen. Ganz versteckt in einer der bunten, gepflasterten Gässchen, in die sich die Touristen nie verirren, sondern nur die Suchenden.
Die scheinbar Blinden und Tauben. Zu denen die Mauern von Porto leise sprechen und denen sie zeigen, was nur Eingeweihte sehen dürfen. Jene, die ihre Seele öffnen. Um die Seele der Stadt ganz in sich aufzunehmen. Ich habe es wohl getan und werde immer eine Gefangene sein. Die sich dort so frei fühlt, wie nirgendwo sonst. Katzen streichelt, die aus irgendwelchen Ecken und leeren Fensterhöhlen wie magisch angezogen hervorkommen. Sich Geschichten von alten Menschen erzählen lässt. In der Werft nach Holzresten fragt. "Bitte, bedien' dich!" Unerwartet (und unverhofft) in ein Straßenfest von Einheimischen gerät und und gar nicht mehr aufhören kann zu singen, zu tanzen und zu feiern...
In eine verlassene Kirche gerät, in der ein junger Mann mit seinen beiden großen Hunden lebt. Der davon davon erzählt, wie er sie einst aus dem Douro gerettet hat, in den böse Menschen sie geworfen haben. Von der Schule, die man geschlossen hat vor langer Zeit, und aus dessen Keller er die ausgemusterten Stühle holen durfte. Wie er sie (immer drei gestapelt) durch halb Porto getragen und im Kirchenraum aufgestellt hat. Begann die Altarreste zu restaurieren, die zerschlagenen Engel. Dass er tut, was er nur machen kann. Was viel zu wenig sei, da er ganz allein und die Schäden so groß.
In meinem Herzen brennt jener Moment, als dieser junge Mensch plötzlich furchtbar zu weinen beginnt. Ich ihn einfach in die Arme nehme, als sei das die selbstverständliche Sache der Welt. "I am homeless", sagt er immer wieder, als müsse er seine Verzweiflung heraus lassen, "meine Eltern haben mich verstoßen, mein Leben ist sinnlos!"
Ich weine plötzlich mit ihm.
Er hätte das nicht sagen dürfen, nicht zu mir, nicht an einem solchen Ort, nicht zu dieser Zeit. "My son is homeless too, since a few weeks. Ich konnte ihm nicht helfen und nun hat er nichts und niemanden mehr! Aber du hast Gott, er hat dir eine Aufgabe gezeigt, dir hier ein Zuhause gegeben und zwei treue Freunde dazu. Es wird eine andere Zeit kommen und du wirst wieder geliebt werden, glaube an dich und das Leben!" Der Große steht dabei und versteht nichts. Was auch besser so ist. Zwei einander wildfremde Menschen stehen hingegen fest umarmt da und fragen sich nicht warum.
Es ist diese Stadt. Es war Schicksal. Es war der genau richtige Moment für beide. Es ist heraus. Ich habe es ausgesprochen, zum allerersten Mal. Mein Sohn hat seine Partnerin verloren. Das Kind. Danach die teure Wohnung mit allem darin. Am Ende die
Arbeit, die sein Leben war. Es blieb nichts, nichts, nichts...
Ich stecke einen Geldschein in die Spendendose, entgegen jeden Protests. "Für Farben", sage ich entschuldigend. Da ich weiß was sie kosten. Der Altar ist groß und wird noch viel davon erfordern. "Du könntest mir helfen", sagt Alberto eifrig, " hier ist viel Platz, du könntest hier auch arbeiten. Und schlafen!" Es wäre mein Traum, in einem solchen Objekt zu leben und zu arbeiten. Aber es geht nicht. Die kleine Kirche hat die falsche Lage, sie liegt direkt auf den Felsen am Douro. Ein hochpreisiges Baugebiet. Für Restaurants, Hotels, Fewos. Alberto du bist bestimmt längst davon gejagt worden. Hast du ein neues Heim gefunden? Werde ich es je erfahren?
In Lissabon kehren wir spät zurück. Lebensmittel haben wir nun. Ich decke den Tisch ein. Still. Nachdenklich. Was habe ich gegessen? Ich erinnere mich nicht. Aber sehe Peter am Herd stehen. Es stinkt fürchterlich und reißt mich aus meinen Gedanken. "Was machst du denn da?" Der Koch ist stolz: "Ich brate mir den komischen Stockfisch." Ich schlucke: "Na, da kannst du dir auch 'nen Storch braten! Der Bacalahau muss doch erst ewig in Wasser eingelegt werden und dabei kühl gehalten. Der ist doch knorrtrocken, den kann man so nicht essen!" Aber was wissen Frauen schon von Fischen, das ist absolut Männersache! Auch gut. Ich verschwinde nach meinem Mahl die Treppe hinauf, rolle mich ein.
Gefühlte Stunden später schleicht mein Held die steile Treppe herauf und kriecht unter die Decke. Ich kann's nicht lassen: "Und hat dein Fisch gut geschmeckt, ist er noch weich geworden?" "Nicht direkt," Oder so ähnlich lautet die Antwort. "Und wo ist er jetzt, es stinkt immer noch gruselig?!"