Ich lass das mal hier, ein bisschen Abfall vom Tagwerk ... keine Ahnung, ob das alle immer schon gewusst haben, nur ich nicht.
Bei Grândola, Vila Morena hört man bekanntlich zu Beginn Schritte, die dann dem gesamten rein vokal dargebotenen Lied den Takt vorgeben. Man hat das Lied als Signal der Revolution im Ohr und stellt sich vor, dass da Soldaten marschieren, vielleicht gerade die Kasernen verlassen, sich auf den Weg in die Hauptstadt machen, um die faschistische Regierung zu stürzen. Gerade aus diesem Grund hätte man das Lied gewählt, meint Otelo Saraiva de Carvalho in einem Interview.
Nur war das gar nicht so vorgesehen, als das Lied 1971 aufgenommen wurden.
1964 wurde Afonso eingeladen, bei einem Konzert in Grândola zu singen, bei dem auch Carlos Paredes auftrat, veranstaltet von der Sociedade Musical de Fraternidade Operária Grandolense – »Música Velha« (→
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Die Sociedade Musical Fraternidade Operária Grandolense wurde am 1. Mai 1912 von einer Gruppe von Arbeitern der Korkindustrie gegründet. Der erste Sitz befand sich in der Rua Almirante Reis und später in einem Haus neben der Kirche São Pedro. Ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre bezog sie das Gebäude, in dem das Krankenhaus Misericórdia untergebracht war. In kultureller Hinsicht erreichte der Kulturverein in den 1950er und 1960er Jahren mit der Gründung einer Bibliothek, einer Theatergruppe und eines Filmclubs sowie der Organisation von Kolloquien, Konferenzen und Ausstellungen einen seiner Höhepunkte.
Fraternidade Operária, Arbeiterbrüderschaft:
»Die 1872 gegründete Bewegung, die sich für die Interessen der Arbeiterklasse einsetzt und von Bakunins Arbeiter-Internationale inspiriert ist. Sie wird mit der
Arbeit im Bereich der öffentlichen Bildung, verschiedenen Zeitschriften und der Organisation der ersten Feierlichkeiten zum Tag der
Arbeit in Verbindung gebracht. Im Jahr 1874 wurde sie in Arbeitervereinigung der portugiesischen Region umbenannt und spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Sozialismus in Portugal und war der Ursprung der ersten sozialistischen Partei. Zu den wichtigen Namen der Arbeiterbrüderschaft gehörten José Fontana, Azedo Gneco und Antero de Quental.« (→
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Das sollte man im Ohr haben, wenn man »Terra da Fraternidade« hört.
(Hier müsste man auch an die Bandas Filarmonicas erinnern, die es heute in vielen Orten noch gibt, »Musikvereine«, eine Form der »Coletividade« →
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Afonso war von der Brüderlichkeit, der in Grândola erfahrenen Solidarität persönlich so berührt, dass er nach dem Konzert 1964 wie zum Dank ein kurzes Gedicht verfasste, vielleicht hatte er das Lied auch schon im Ohr.
Dass der Text zuerst sehr persönlich gemeint war, sieht man daran, dass eine Strophe schließlich gestrichen wurde, in der er die »Höflichkeit« der Menschen dieser kleinen Stadt besingt, Grândola sei »Capital da Cortesia« – der »feinen und zivilisierten Art des Umgangs«, die »den Handlungen und Gesten einer anderen Person Vorrang einräumt und den richtigen Moment abwartet, um seine Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen« (→
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Capital da cortesia
Não se teme de oferecer
Quem for a Grândola um dia
Muita coisa há-de trazer
1971 wurde das Lied schließlich in Frankreich – im Château d’Hérouville (→
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) – für das Album »Cantigas do Maio« aufgenommen. Das Bild, das zeigt, wie die Schritte ins Werk gesetzt wurden, ist relativ bekannt: José Afonso, José Mario Branco und Francisco Fanhais, untergehakt, auf einem Gartenweg des Studios, um drei Uhr morgens, damit keine Geräusche die Aufnahme stören (→
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Das Lied wurde ohne musikalische Begleitung aufgenommen; hören, so war die Idee, sollte man, so erinnert sich José Mario Branco, die langsamen Schritte der Arbeiter, die müde von der Feldarbeit (a monda) heimkommen, erschöpftes Schlürfen, keine Marschieren: »im Viervierteltakt wird abwechselnd ein Fuß angehoben und landet mit dem nächsten Schlag auf dem Boden, die Bewegung des anderen Fußes schließt den Takt ab.«
Zwischen Produktion und Rezeption liegen dann allerdings Welten:
»Was sich für uns wie langsame, schleppende Schritte anhörte, klang für die Leute doppelt so schnell, als ob der Moment des Schleppens des Fußes ein weiterer Schritt wäre. Das Geräusch des schleppenden Schrittes ist von dem des landenden/auftretenden Fußes nicht zu unterscheiden.« (José Mario Branco)
Bei Wikipedia steht, dass es ein »berühmtes portugiesisches Kampflied« sei. Mag sein, vielleicht sogar ein Kampflied. Aber: eines, dass freundschaftlich und zärtlich daherkommt, fast privat, wenn man den Hintergrund kennt, eine Erinnerung an gelebte Solidarität (»em cada esquina um amigo«). Und wenn man jetzt noch den Anfang, die Schritte mit offenen Ohren hört, dann müsste man das Müde hören, das Zerbrechliche ... (Der Fortschritt marschiert hier nicht – und wenig dürfte auch der portugiesischen Revolution ferner gewesen sein, als sozialistischer Prolet- und Arbeitskult.)
Ob das Volk 1964 tatsächlich das Sagen hatte in der Stadt (O povo é quem mais ordena / Dentro de ti, ó cidade) – und nicht nur in der politischen Gemeinschaft der »Fraternidade«? Eher nicht; ein Foto aus dem Jahr zeigt, wie sich die Leute drängeln beim Besuch des Präsidenten Américo Thomaz zur feierlichen Eröffnung der neuen Landwirtschaftsschule.