AW: Portugal-Wir bräuchten eine neue Revolution"
Gerne hätte ich das Thema auch beerdigt. Da setzt Du mit Deinem Ordnungsruf mir wieder einen Stachel in den Pelz. Also:
Revolutionen sind out of time. Genauso obsolet wie Duelle es im 19 Jahrhundert und europäische Kriege es im 20. geworden sind. Bereits die Geschichte verfälscht sie parteiisch, indem sie vorwiegend nur erfolgreiche als solche bezeichnet – ansonsten waren es niedergeschlagene Aufstände. Also bitte kein Aufsatzthema "Haben uns Revolutionen heute noch etwas zu sagen?"
Hallo Lobinho! Mittlerweile glaube ich Dich so zu erahnen, dass ich mit Dir einen Protestzug gegen irgendeine Wallraf-Aufdeckung in vorderster Reihe bestreiten könnte. Im Fall der ruinösen Hebammen-Versicherungspolicen würde ich dafür sogar 200km fahren. Ich würde auch eine vor meiner Nase schüttelnde Sammelbüchse zum Tierschutz nicht zurückweisen. Aber letztlich kann ich "Not" in Deutschland nur in Anführungszeichen setzen wollen, erscheint mir das alles dekadent, weil eher psyschiche als physische Not dahinter steht. Ich tendiere da, wie Du weißt, mehr zur existenziellen Not in Afrika, Teilen von Asien und südamerikanischen Slums. Aber dafür eine Revolution anzetteln? Bin ich gegen Krieg? Ja. Auch dann, wenn er einen Völkermord beenden soll? Nein. Ich brauche bitte noch einige Jahre des Nachdenkens, ehe ich, wenn ich das Opfer wäre, mir ein festes Urteil über chirurgische militärische Operationen bei möglichster Schonung der Zivilbevölkerung bilden kann.
Wie sähe denn eine zeitgemäß-sportliche Edelrevolution in Portugal aus: Man würde die Regierung Coelho, die Verfassung augenzwinkernd kurzfristig für einen kleinen Moment ausschaltend, zum Teufel jagen…Prima! Lt. Oppositionsführer Seguro wünschen das alle 10 Millionen Portugiesen, außer der Regierungmannschft (und, ergänze ich, sämtlichen Mitgliedern des Portugiesischen Schachverbandes). Zu denken gibt nämlich, dass Coelho jedem der er es will, zu Gehör bringt, dass er der Letzte sei, der an seine Wiederwahl glaube, er aber dennoch die Forderungen der Troika erfülle, weil die Alternative die Staatspleite sei. Man müsse neu verhandeln, meint die sympathische Heloísa Apolonia von den winzigen Grünen. Umverteilung sagt Seguro. Weitere Kredite sagt Martin Schulz aus Brüssel, und die Parteien weiter links präferieren intelligent (esquerda) oder handfester (comunistas) Revolitionäres. Kurz gesagt. Politische Reife würde (a) realistische Optionen aufzeigen, (b) die Alternativen und Möglichkeiten der Gegenseite so klug (außer seinerzeit Klunker für den Öffentlichen Dienst) einschätzen können, wie die deutschen Gewerkschaften, heißt, die Kuh nicht schlachten, die die Milch gibt.
Natürlich würde ich mich bei meiner bigotten Ethik freuen, wenn einen Potentat mit maßgeschneiderten Hemden, dessen Volk Not leidet, revolutionär zur Seite gefegt würde. Aber wochenlang bis ich 2014 durch Portugal gefahren auf der Suche nach der großen Not, außerhalb der Saison, außerhalb und innerhalb der Zentren: Ich habe sie nicht gefunden. Ich habe mühsam die wenigen Unterschiede in öffentlicher Bebauung, Lebensführung, Preisen zusammenkratzen müssen, und mehr als einen Bereich gefunden, in dem Portugal uns voraus ist.
Es sind die Schulden, die dann in Not stürzen, wenn man sie bemerkt. Die betroffene Familie in Deutschland bemerkt sie, die Deutschen mit ihren 3 Billionen nicht. Jedem von uns schwindelten die Regierungen, um wiedergewählt zu werden, also einen Lebensstandard vor, der pro Person mit 40 Tausend Euro zu hoch ist. Wenn je eine Regierung diese Überverwöhnung, diesen Betrug an der Nachfolgegeneration einfordern würde, würden wir nicht anders reagieren als Griechen und Portugiesen. Aber 1. Frage: Hätten wir ein Recht dazu? 2. Frage, wo würden wir, WIR, Du und ich, uns denn einschränken wollen?
chuchu
PS: OK, Maximus, mich schulde Dir ein Bier